Rückenschmerzen: Ganz normal?

Rückenschmerzen: Ganz normal?

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Rückenschmerzen und Bandscheibenschäden sind in der westlichen Welt ein Riesenproblem. Allein in Deutschland erwuchs ein volkswirtschaftlicher Schaden in 1999 von ca. 20 Mrd. € durch Krankschreibungen von Rückenschmerzpatienten.
Wie kommt es dazu, wie kommt es, daß in der westlichen Welt Hunderttausende Patienten an Bandscheibenvorfällen operiert werden, eine Bandscheiben-OP auf dem afrikanischen Kontinent dagegen fast eine Seltenheit darstellt.

Um dieses zu verstehen, muß man einiges wissen:
Jede Wirbelsäule – ich wiederhole – jede Wirbelsäule altert. Im Rahmen dieser Alterungsprozesse verlieren die Bandscheiben z.B. der Lendenwirbelsäule ihre Elastizität und somit ihre „Spannkraft“. Man kann sagen, daß die Wirbelsäule an Stabilität einbüßt. Da der Mensch aber aufrecht durchs Leben geht, muß die Wirbelsäulenstabilität weiterhin erhalten bleiben. Dieses leistet in einem ganz entscheidenden Maße die wirbelsäulenverstrebende Muskulatur. Hierzu gehören Rückenstreck- und auch Bauchmuskulatur. Man kann diese wirbelsäulenstabilisierende Muskulatur vergleichen mit der Takelage eines Schiffsmastes. Fehlt diese Takelage, wird der Mast instabil und bricht beim ersten Wind.
Wie stark eine Wirbelsäule altert, wie stark also die Bandscheibe an Elastizität verliert, ist neben der Alltagsbelastung vor allem eine Frage der Genetik. Wir sehen im klinischen Alltag ganze Ahnengalerien von Rückenschmerzpatienten. Ich zitiere einen schönen Satz: „Bei Menschen gibt es Bindegewebe, da kostet der qm € 1.000,- oder € 100,-: Irgendwo auf dieser Qualitätsskala findet sich jeder wieder.“ Wir sehen immer wieder Wirbelsäulen von älteren Menschen, die keinerlei Alterungs- und Verschleißerscheinungen haben, auf der anderen Seite Wirbelsäulen, die im 30. Lebensjahr schon aussehen wie die eines 70-Jährigen.

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Die Alterung der Wirbelsäule sieht man im Röntgenbild typischerweise in Form von Knochenreaktionen am Bewegungsegment (siehe Abb.2 ).routinier_clip_image002

Der Körper ist nämlich ziemlich klug, er mag keine Instabilität, wo sie nicht hingehört, und beginnt mit knöchernen Abstützreaktionen (sog.Spondylose Abb.3).

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Die Wirbelsäule stabilisiert sich also von selbst. Dies kann viele Jahre dauern; wie ausgeprägt diese Abstützreaktion abläuft, ist zum großen Teil auch genetisch bedingt (beim einen mehr Abstützanbauten, beim anderen weniger). Diese stabilisierenden Knochenanbauten können über Jahre dann zur sogenannten „wohltuenden Einsteifung“ der Wirbelsäule führen.
Ein Zweites ist zu bedenken: Neben der Bandscheibenalterung und neben dem Verlust der Wirbelsäulenstabilität verliert der Mensch im Alter auch an Muskelkraft. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, daß bis zum 70. Lebensjahr der Mensch ohne Training 20 – 40% seiner Muskelkraft verliert.
Das Problem ist also folgendes: Eine insgesamt schwächere Muskulatur soll eine instabilere Wirbelsäule halten. Hierbei gibt die Muskulatur ganz automatisch – quasi reflektorisch – ihr Bestes, sie hält und hält so stark, bis sie „krampft“. Es kommt zu muskulären Verhärtungen, die zum größten Teil für Rückenbeschwerden, aber auch Nackenbeschwerden verantwortlich sind. Einige typische Erscheinungsbilder dieser Art sind z.B. der Spannungskopfschmerz, wo also Verhärtungen der Schulter-/Nackenmuskulatur zu einem beidseitigen Hinterhauptkopfschmerz – bis in die Stirn ausstrahlend – führen.
Wir sehen also: Die alternde Wirbelsäule braucht Muskelkraft; Und hierin besteht auch die Therapie:
Aufbau der wirbelsäulenstützenden Muskulatur ist gefordert. Nun wird sich der Leser leicht vorstellen können, daß dies im Anfang problematisch ist. Die zu schwache, bis zur muskulären Verhärtung arbeitende Muskulatur soll nun auch noch auftrainiert werden. Hier sehen wir oft: Das macht sie nicht mit. Es kommt zur Verstärkung der Beschwerden am Anfang des Rumpfmuskeltraining. Wer dieses bei sich schon erfahren hat, sollte sich hierdurch nicht entmutigen lassen. Im amerikanischen Bereich heißt es: „Vergiß Deinen Rücken, mach weiter.“, hier wird also relativ wenig Rücksicht darauf genommen, daß es erst zur Verschlechterung kommt, dem Patienten wird ein Stufenplan vorgegeben, den er sozusagen abarbeiten muß.
Ich denke, die Wahrheit liegt – wie immer – in der Mitte. Wichtig ist, daß der Patient motiviert ist, nicht zu schnell zu große Erfolge erwartet, der Muskulatur auch Regenerationszeit gibt und so langsam seine Rumpfmuskulatur auftrainiert. „Muskelaufbautechnisch“ gesehen sollte ein Krafttraining alle 2 Tage erfolgen, dies hat Gründe in den Regenerationszeiten. Weiter ist zu beachten, daß ein Krafttraining der Rumpfmuskulatur größere Rotationsbewegungen in der Lendenwirbelsäule vermeidet; für diese Art der Bewegung ist sie – vereinfacht gesprochen – nicht gebaut.
Die vorgenannten Abschnitte können das Problem „Rückenschmerz“ nur anreißen, hier gäbe es noch Vieles zu sagen. Auch ersetzen diese Informationen nicht eine Abklärung anderer, manigfaltiger Ursachen des Rückenschmerzes bzw. die Untersuchung durch den Orthopäden (siehe auch Abb.9).routinier_clip_image009

 

Der „Ischias“ – auch eine ganz normale Geschichte?!
Wie im vorherigen Kapitel schon angesprochen, altert die Wirbelsäule, altern Bandscheiben (und nicht nur Bandscheiben). Dieses kann in verschiedenen Formen ablaufen: Schleichend, die Bandscheibe verliert nach und nach an Höhe, wird flacher und verliert an Spannkraft, es kommt zur Instabilität. Eine zweite Form der Alterung würde ich gerne als „plötzliche Alterung“ bezeichnen: Hierbei kommt es zu Einrissen in dem Ring der Bandscheibe, wodurch dann relativ plötzlich der Kern der Bandscheibe durchtreten kann: Der Bandscheibenvorfall.

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Das typische Alter, in dem es zum Bandscheibenvorfall kommt, liegt zwischen Anfang 30. und Mitte 40. Lebensjahr, einfach deswegen, weil in dieser Zeit der Kern der Bandscheibe noch elastisch genug ist, sich durch Einrisse des Ringes zu quetschen. Im höheren Alter sind klassische Bandscheibenvorfälle eher die Ausnahme. Hier kommt es zu anderen Ursachen des „Ischias“, auf die jetzt nicht weiter eingegangen werden soll.
Der Bandscheibenvorfall ist eine nicht ungewöhnliche Form der Alterung der Bandscheibe. Er wird nur dann unangenehm, wenn er „auf einen Nerven drückt“ und hierbei ist „drücken“ nicht wörtlich zu verstehen. Das problematische beim frischen Bandscheibenvorfall ist nämlich nicht der Druck selbst, sondern eine hochgradige Entzündung des Nerven aufgrund des sehr „aggressiven“ Bandscheibengewebes.

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Diese Entzündung der Nervenwurzel (siehe Abb.6) führt zu heftigem Schmerz entlang der Nervenbahn, also bei der Lendenwirbelsäule zum Ischiasschmerz ins Bein. Diese unglückliche Situation des frischen Bandscheibenvorfalles, der an einer Nervenwurzel zur Entzündung führt, ist – Gott sei Dank – relativ selten. Wir finden sehr viele Bandscheibenvorfälle, die überhaupt gar keine Probleme machen! Es gibt Analysen, die zeigen folgendes: Untersucht man Leute, die keinerlei Rückenbeschwerden haben, in der Kernspintomographie auf Bandscheibenvorfälle, finden sich bei 100 Patienten in 70 Fällen Bandscheibenvorfälle, die aber – wohlgemerkt – keine Probleme machen.
Haben wir jetzt aber diesen unglücklichen Fall, daß Bandscheibengewebe an einer Nervenwurzel zur Entzündung führt, müssen wir therapeutisch versuchen, diese Entzündung zu bekämpfen. Dies schafft man am effektivsten, indem man hochwirksame antientzündliche Mittel möglichst nahe an die Nervenwurzel deponiert.routinier_clip_image007routinier_clip_image008

Dieses erreicht man idealerweise durch peridurale (Abb.7 und 8) oder perineurale Injektionen bzw. Katheder (minimalinvasive Wirbelsäulentherapie). Hierbei wird ein in diesem Fall geeignetes Medikament, z.B. Cortison, an die entzündete Nervenwurzel gebracht. Dieses hört sich alles wild an, ist es aber gar nicht, die Injektion selbst wird mit kleiner lokaler Betäubung vorbereitet, schmerzt in der Regel nicht.Falls man es schafft, die Nervenentzündung in den Griff zu bekommen, lassen die Ischiasschmerzen nach, der Bandscheibenvorfall selbst bleibt aber an Ort und Stelle und macht nur dann noch weitere Probleme, wenn er ungünstig liegt und das sogenannte Nervenaustrittsloch, wo also der Nerv die Wirbelsäule verläßt, mechanisch einengt. Wir sprechen von „neuroforaminaler Stenose“. Hier ist also tatsächlich der Druck auf den Nerv problemprovozierend und nicht die Entzündung. Die Patienten beschreiben einen belastungsabhängigen Schmerz entlang des Nerven, auch Kribbeln, ab und zu Schwäche im Bein. Dieses tritt typischerweise nach längerem Stehen oder Gehen auf und wird besser, wenn sich die Patienten hinsetzen. Der eine oder andere Leser hat sicherlich den Ausdruck „Schaufensterkrankheit“ schon einmal gehört. Wir sprechen von wirbelsäulenbedingter (Claudicatio spinalis) im Gegensatz zur durchblutungsbedingten Schaufensterkrankheit (Claudicatio intermittens). Die Therapie dieses Krankheitsbildes ist etwas komplexer, nicht selten ist auch ein operativer Eingriff notwendig.

Zusammenfassend möchte ich noch einmal Folgendes betonen: Beim klassischen Ischiasschmerz liegt in der Regel eine Nervenwurzel-Entzündung vor, die durch Bandscheibengewebe hervorgerufen wird. Bekommt man die Entzündung in den Griff, ist in den seltensten Fällen eine operative Entfernung des Bandscheibenvorfalles notwendig. Den Bandscheibenvorfall selbst kann man als plötzliche „Bandscheibenalterung“ auffassen und ist durchaus als ein alltägliches Geschehen zu sehen. Wenn also bei Ihnen in einer Kernspinuntersuchung ein Bandscheibenvorfall gefunden wird: Keine Panik!
In der westlichen Welt mit all seinem Bewegungsmangel, mit all seinen Schreibtischtätern und Sportmuffeln ist der Rückenschmerz allgegenwärtig. Da es in der Medizin auch in absehbarer Zukunft nicht möglich sein wird, Alterungsprozesse aufzuhalten, kann die Therapie nur symptomatisch sein: Entlastung der Wirbelsäule durch Rumpfmuskeltraining!
Dieses ist – zugegeben – nur eine Komponente des Rückenschmerzes, aber eine ganz wesentliche. Verschiedene Untersuchungen über Ursachen des Rückenschmerzes betrachten alle möglichen Facetten des menschlichen Lebens, die in dem Satz zusammengefaßt werden könnten: „Rückenschmerz ist fast immer mehr als Schmerz im Rücken“. Wir wissen, daß die Zufriedenheit am Arbeitsplatz, das Versicherungswesen, der Anspruch des alternden mitteleuropäischen Menschen an Gesundheit und Schmerzfreiheit etc. ganz wesentliche Komponenten sind. So ist – und dies soll die letzte Bemerkung zu diesem Thema sein – es z.B. für den älteren Orientalen völlig normal, daß er Rückenschmerzen hat.

Dr. St. Nolte, Chefarzt
am Krankenhaus für Sportverletzte Hellersen
in der Abteilung für konvervative Orthopädie

Fachpraxis für Physiotherapie und Angewandte Manuelle Therapie